Während sie aufzählte, was sie alles behandeln konnte wuchs neben seiner stummen Bewunderung auch sein Misstrauen. Es schien nichts zu geben, was sie nicht heilen konnte und üblicherweise kamen solche Fähigkeiten immer mit einem Nachteil.
Er überlegte kurz und zögerte.
"Aber ich nehme an, es gibt einen Nachteil an der ganzen Sache?", äußerte er seine Vermutung und beobachtete sie aufmerksam, während sie dort am Fenster lehnte.
"Soweit ich weiß, ist es eher ungewöhnlich, heilende Fähigkeiten zu besitzen, die ein dermaßen großes Feld an Verletzungen abdecken."

Aisha's Lächeln verschwand nicht, doch wenn man genau hinsah erkannte man in ihren Augen ein kurzes Flackern, als er nach Nachteilen fragte. Bislang hatten sie erstaunlich wenig Menschen darauf angesprochen und in ihrer Heimatstadt war ohnehin allgemein bekannt gewesen wer sie war und was sie konnte, mit all den Konsequenzen. Zumindest seit dem Besuch des Gelehrten.
Davor hatten ebenfalls nur wenige jemals die Ausmaße ihrer Fähigkeit mit Konsequenzen in Verbindung gebracht, nicht einmal sie selbst war sich dessen bewusst gewesen. Sicher, sie hatte die Müdigkeit gespürt, aber nie gewusst, was das für sie hieß.
Doch soweit es sie betraf, änderte das nicht das Geringste. Sie war Heilerin und dabei blieb sie. Diese Fähigkeit würde sie in all ihrem Umfang nutzen, wenn es jemandem half.
Es half sogar gewissermaßen, denn man lebte viel intensiver, viel bewusster.
Sie dachte darüber nach, welche Antwort sie Jason geben sollte und zuckte schließlich mit den Schultern. "Es ist wohl ungewöhnlich...was die Konsequenzen angeht-manchmal werde ich sehr müde nach einer Heilung, fühle mich etwas schlapp. Das ist aber auch alles."

Er beobachtete das Mädchen ihm gegenüber während sie offenbar darüber nachdachte, was sie ihm antworten sollte. Noch immer misstrauisch versuchte er zu erkennen, ob sie ihm die Wahrheit sagte oder nicht, sah jedoch ein, dass er bestenfalls raten konnte, da er sich nie wirklich viel damit beschäftigt hatte, ob jemand log oder auch nicht.
"Hm...", war sein erster, leiser Kommentar auf ihre Erklärung.
"Manchmal? Wann denn, zum Beispiel?... Das klingt nicht sonderlich gesund", bemerkte er dann ein wenig besorgt. Es war zwar nicht unüblich, dass dermaßen umfassende Fähigkeiten an den eigenen Kräften zehrten, doch er wusste nicht, was er davon halten sollte einer Schülerin den Einsatz einer solchen Fähigkeit zu erlauben, solange sie quasi seiner Sufsicht unterstand . auch wenn sie sich das selbst ausgesucht hatte.

Jason sah so aus als ob er sich nicht mit der Antwort zufrieden geben würde- und tatsächlich, er fragte noch einmal nach, offensichtlich unsicher, was er von ihr halten sollte. Aisha ging ein Gedanke immer wieder durch den Kopf: Bloß nicht die ganze Wahrheit.
So ungern sie log (oder Halbwahrheiten von sich gab, das war vermutlich der treffendere Begriff), sie konnte nicht zulassen, dass man ihr das Heilen womöglich verbat um sie zu 'schützen'. Niemand schien ihre Entscheidung akzeptieren zu können und daher ging sie das Risiko gar nicht erst ein, jemandem alles zu erzählen. Was änderte es denn?
Die Besorgnis in Jasons Stimme war ein Indikator dafür, dass er wohl ähnlich reagieren würde wie ihre Freunde damals, die sofort versucht hatten sie vom Einsatz der Fähigkeit abzuhalten.
Womöglich machte er sich aber auch einfach nur Sorgen, dass sie in seiner Obhut zu Schaden kam, was man ihm vielleicht vorhalten konnte. Aber sie schätze Niamh eigentlich nicht so ein.
Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß, dachte sie. Und er ist dann wunderbar unwissend und somit nicht zu beschulden.
"Es tritt eigentlich nur auf, wenn ich meine Fähigkeit sehr häufig hintereinander, also besonders lange oder bei einem sehr schweren Fall einsetze. Meistens passiert gar nichts."

Auch diesmal schien sie sich sehr lange Zeit zu lassen und zu überlegen, bevor sie antwortete. Entweder, sie wählte ihre Worte einfach nur sehr, sehr bedacht oder sie wog vor jeder Antwort genau ab, was sie ihm sagte und was nicht. Er tippte zwar auf die zweite Option, beschloss jedoch, dass sie ihm wohl keine weiteren Antworten geben würde, selbst wenn er noch weiter nachgefragt hätte. Also nickte er knapp.
"Das klingt tatsächlich so, als wäre das eine sehr nützliche Fähigkeit."
Jason schob die Hände in die Hosentaschen und veränderte seinen Stand leicht, wie er es oft tat, wenn eine Situation unangenehm oder schwierig wurde, etwas, das er sich schon sehr früh an Land angewöhnt hatte.
Er wusste nicht, worüber er weiter mit ihr reden sollte, nahm sich jedoch im Stillen vor, sie genauer zu beobachten und einzuschreiten, wenn abzusehen war, dass ihre Fähigkeit ihr selbst oder anderen Probleme bereitete. Außerdem könnte er versuchen, mit Niamh darüber zu sprechen.

"Das ist es", stimmte Aisha ihm zu. Schweigen breitete sich aus, keiner von beiden schien wirklich etwas zu sagen zu haben. Bevor es wirklich unangenehm werden konnte, stellte Aisha eine Frage, die sie interessierte: "Wie lange sind Sie schon hier Schularzt? Ich bin erst seit Kurzem Schülerin hier, daher kenne ich mich noch nicht aus."
Sie war neugierig, denn Jason wirkte noch recht jung. Aisha schätze ihn auf Ende Zwanzig, Anfang Dreißig- ein junges Alter für einen Art.
Andererseits waren selbst die Lehrer hier kaum älter als 25, das hier war schließlich keine reguläre Schule. Es machte das Ganze aber sehr interessant, da der Altersunterschied zwischen Schüler und Lehrer teilweise kaum mehr als 5 Jahre betrug.
Und dennoch schienen die meisten hier die Lehrkräfte zu schätzen und zu respektieren. Gerade bei den Schülern, die schon länger hier waren, war eine Vertrautheit mit manchen Lehrern zu erkennen, die sie so noch nirgends gesehen hatte.
Auch wenn sich die Schule im Ausnahmezustand befand und es wohl nicht ungefährlich hier war, so bereute sie es doch kein bisschen hierher gekommen zu sein.
Ihr gefiel es ihr- und es schien, als ob sie sich eine gute Zeit ausgesucht hatte. Bei dem was kam war eine Heilerin nie verkehrt.