"Das habe ich wohl.", sagte Delayne.
"Nur wovor?", fragte sie. Sie selbst musste vor vielen Dingen gerettet werden. Vor Dingen, vor denen sie Angst hatte. Doch wovor hatte sie Alysha gerettet? Und hatte sie sie überhaupt gerettet?

"Vor dem Ende.", sagte Al nach einer Weile. "Davor, einfach aufzugeben und vom Angesicht der Welt zu verschwinden."
Vielleicht brauchte man manchmal einen Stups in die richtige Richtung. Vielleicht konnte man erst in dem Moment wieder Hoffnung fassen, da man sie völlig aufgegeben hatte.
Sie sah das andere Mädchen nachdenklich an. Es hatte braune Haare und ein weiches, herzförmiges Gesicht. Seine dunklen, braunen Augen erinnerten sie an ihre eigenen.
"Bist du ein Engel.", fragte sie nach einer Weile. Die Situation kam ihr seltsam vertraut vor, so als hätte sie ein Déjà-vu.

"Ein Engel?", fragte Delayne überrascht. Nur Artgenossen hatten ihre wahre Natur bisher erkannt.
"Früher. Früher war ich ein Engel, doch ich denke heute bin ich es nicht mehr."
Sie wusste nicht, ob sie überhaupt ein Engel sein wollte, denn das war einer der Gründe, warum ihr soetwas Schreckliches widerfahren war. Sie konnte nichts Böses tun, sich nicht wehren.

"Ich glaube, Menschen, die Leben retten können, sind immer Engel.", erwiderte Alysha zaghaft. "Engel müssen nicht immer Flügel haben, um zu fliegen..."
Sie dachte an Eleyn und ausnahmsweise tat der Gedanke nicht weh. "Ich kannte mal einen Engel.", erzählte sie. "Sie hat auch nicht gewusst, dass sie einer ist."

"Woher wusstest du, dass sie einer war?", fragte Delayne.
Sie erhob sich von dem weichen Bett und ging zu Alyshas Bett hinüber. Sie nahm schweigend ihre Hand.

Alysha war nicht einmal überrascht. Sie drückte die Hand des Mädchens sanft.
"Man sah es an ihren Augen.", sagte sie leise. "Sie hatte die klarsten, blauen Augen, die man sich vorstellen konnte. Und in ihnen spiegelte sich das Licht..." Tränen in ihren eigenen Augen...
Al schlug die Bettdecke zurück und stand auf, wobei sie die Hand des anderen Mädchens nur noch ganz locker hielt, sodass sie selbst entscheiden konnte, ob sie loslassen wollte. "Wie ist dein Name?", fragte sie neugierig.

"Delayne, denke ich.", antwortete Delayne zögerlich. "Doch ist das nicht mein erster Name, soweit ich weiß."
Sie sah zu Boden und fragte dann: "Wollen wir raus gehen?"

Alysha nickte und band ihre Haare zu einem provisorischen Knoten hoch. Dann ergriff sie die Hand von Delayne erneut. "Mich hat man früher 16A genannt.", erinnerte sie sich plötzlich. "Aber dann wurde mir ein neuer Name geschenkt. Nun bin ich Alysha." Hand in Hand gingen sie zur Tür und Alysha riss sie weit aus und sog die unverbrauchte Luft des neuen Morgens in sich auf. "Vielleicht regnet es.", sagte sie gedankenverloren, während sie zum See liefen.

Darren wachte auf, weil ihm die Stuhllehne unangenehm in die Seite drückte. Er hatte nicht lange schlafen wollen und das war eindeutig zu lange. Darren schlief allgemein nicht gerne und nicht viel, aber der letzte Tag hatte selbst ihn Nerven gekostet und das hatte sich gegen Mitternacht langsam bemerkbar gemacht.
Er sah sich um; Alysha und Delayne waren nicht da, aber das hatte nichts zu heißen. Er hatte ihnen nicht untersagt das Krankenzimmer zu verlassen und in ihrem Zustand würden sie ohnehin nicht weit kommen - wohin sollten sie auch gehen?
Vivalie schlief noch. Ihr blasses, von schwarzen Strähnen umrahmtes Gesicht sah so ungewohnt friedlich aus, dass ihm ganz komisch zumute wurde. So sollte es immer für sie sein: keine Alpträume, keine bitteren Ahnungen, die ihren Schlaf störten. Keine Angst, die jeden Teil ihres Lebens kontrollierte. Er wusste, er würde dafür kämpfen dass es eines Tages immer so sein würde. Dass die Geister der Vergangenheit sie nicht mehr jagen würden.
Darren weckte sie nicht auf. Stattdessen wandte er fast beschämt den Blick ab. Er hatte kein Recht dazu sie so anzusehen, nur weil sie es nicht mitbekam. Er hatte kein Recht ihren einzigen Frieden zu zerstören.
Der Ork ging fast geräuschlos zum Fenster und öffnete es weit. In tiefen Zügen atmete er die frische Morgenluft ein.

Frieden.
Zum ersten Mal seit langem träumte Vivalie nicht. Sie schlief, ohne Gedanken an Verstorbene, ohne Ahnungen von Trauer und Tod. Wie seltsam im Grunde, wo doch so viel geschehen war! Doch vielleicht war es einfach die abgrundtiefe Erschöpfung, die ihr Unterbewusstsein daran hinderte, Träume zu spinnen.
Doch schon meldete sich die Realität wieder... Das Nichts des Schlafes verzog sich und machte der Wirklichkeit platz. Ihr wurde bewusst, dass sie auf einem Bett lag... das sie am vorherigen Tag bei Darren Autofahren gelernt hatte, ihn danach fast umgebracht hatte... dass Driger tot war und Alysha sich von der Klippe gestürzt hatte...
Vorbei war es mit dem Frieden.
Viv riss die Augen auf und setzte sich ruckartig auf. Ihre Augen schossen durch den Raum. Al war fort. Das fremde Mädchen auch. Was war geschehen? Hatte sie etwas verpasst? Oh nein!
Nur Darren war noch da, stand am Fenster und sah hinaus. Wie lange war er schon wach? Er war da... Ihr Fels. Unverrückbar, egal wie hoch die Wellen schlugen.

Als Darren ein Geräusch hörte, drehte er sich um. Vivalie war erwacht. "Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt.", sagte er halblaut. Er dachte an gestern Abend. Hoffentlich würden sie nie wieder solche Alpträume plagen.

Sie schüttelte den Kopf. "Hast du nicht."
Unschlüssig saß sie auf dem Bett und bemerkte, wie zerknittert ihr Kleid war... langsam wurde es unbequem. Schließlich erhob sie sich, sie hatte das Gefühl, Darren schon viel zu lange zur Last gefallen zu sein.
"Ich denke, ich werde gehen.", murmelte sie. Vielleicht würde sie Alysha suchen... außerdem musste sie wirklich denken.

"Und ich muss, offen gestanden, dringend meinen Unterricht vorbereiten.", sagte Darren und grinste. "Du kommst doch hoffentlich, oder?" Nun, zunächst sollte er sich einmal auf den Weg machen und einen alten Freund abholen. Er würde seine Hilfe heute brauchen.

Viv nickte, sie hatte ihn lange genug aufgehalten.
"Bis dann." Sie verließ das Krankenzimmer und ging zu ihrem Wohnblock

Seine Erleichterung, dass sie kommen würde, ließ er sich nicht anmerken. Darren machte sich auf dem Weg zu seinem Büro.

cf: Klassenzimmer

Auf halben Weg hatte Mira es sich anders überlegt und machte stattdessen einen Abstecher ins Krankenzimmer. Ihr Fuß schmerzte höllisch.
Zielstrebig humpelte sie auf die Schränke an der Wand zu und riss sie alle auf. Einer voller Verbandszeug, einer mit sterilen Spritzen, zwei enthielten Gerätschaften, die sie nicht zuordnen konnte und der letzte ließ sich nicht öffnen.
Mi holte alles, was ihr irgendwie nützlich erschien, aus dem ersten Schrank, und zog ihren Schuh aus. Ihr verletzter Knöchel war dick angeschwollen und blau und sah gar nicht gut aus. Sie nahm einen Verband und wickelte ihn so fest sie konnte um ihren Fuß, auch wenn sie das vor Schmerzen aufschreien ließ. Mi fand noch eine Rolle Tape und umwickelte ihren Knöchel auch damit. Jetzt fühlte sich das Ganze schon etwas stabiler an. Probeweise stand sie auf und hätte fast wieder geschrieen. Es tat immer noch genauso weh.
Egal, da musste sie durch. Schmerzmittel hatte Mira keine gefunden, sie würde jede Wette darauf abschließen, dass sie sich in dem abgeschlossenen Schrank befanden. Die Lehrer trauten ihren Schülern wohl nicht...
Das Chaos, das sie verursacht hatte, ließ Mi einfach so liegen und humpelte wieder hinaus. Es gab noch ncihts zu essen, also würde sie sich die Umgebung der Schule einmal anschauen.

tbc: Marktplatz

Mira hatte noch versucht Liz davon abzubringen, ins Krankenzimmer zu gehen, aber sie ließ nicht mit sich reden. Das, dachte Mi trotzig, war genau der Grund, warum sie es hasste auf andere angewiesen zu sein. Seufzend ließ sie sich auf ein Bett fallen und streckte den Fuß ganz vorsichtig aus. "Ich glaub, es geht schon wieder.", log sie.

"So, dann zeig mal her", meinte Liz lächelnd. Sie zog vorsichtig an dem Bein und betrachtete den Verband. "Hast du etwas dagegen?" Sie zeigte auf diesen. "Wenn ich ihn dir abnehme?" Der Verband sah neu aus. Und war gar nicht so schlecht. "Wie hasr du dir die Verletztung zugezogen?"

"Würde es etwas ändern?", brummte Mira missmutig. Sie kam sich vor wie ein verhätscheltes Baby. Auf Lizs zweite Frage schwieg sie einfach. Was ging es sie an? "Kennst du dich denn mit so etwas aus?", fragte sie. Aber eigentlich sollte es keine Beleidigung sein.

"Ja", lächelte Helizia. "Ich bin eine Hexe und wurde in der Heilkunde unterrichtet." Sie nahm vorsichtig den Verband ab. Dann schluckte sie. Diese Verletztung musste teuflisch schmerzen. "Wie ist das passiert?", fragte sie während sie ein Tuch unter den Wasserhahn hielt. Sie wrung es aus. Es war jetzt nur noch feucht und kalt. genau das richtige.

"So wie sowas immer passiert.", sagte Mi ausweichend. Sie würde Leena nicht verraten. "Man läuft, man knickt um, man stürzt... Ich dachte, du wolltest unbedingt nem Lehrer Bescheid sagen?", fragte sie um abzulenken.

Skeptisch besah Liz sich den Knöchel. "Du bist hingefallen?Wenn du meinst ..." Ihr Tonfall machte deutlich, dass sie ihr diese Geschichte nicht abkaufte. Sie legte das Tuch vorsichtig auf die Verletzung. Es würde etwas kühlen und die Schwellung zurücktreiben. Sie ging zu den fünf Schränken hin und öffnete alle, bis auf den, der sich nicht öffnen ließ.
Sie nahm sich alles was sie brauchte. Verband, Tape, eine Schiene und noch mehr Handtücher.
Dann griff sie wieder nach dem geschlossenen Schrank. Er ließ sich wirklich nicht öffnen und nirgends war ein Schlüssel zu sehen. Leise fluchend kam sie wieder zurück.
"Du willst wirklich keinen meiner Tränke?" Die Frage nach den Lehrern lies sie fürs Erste zur Seite.

"Das ist jetzt nichts Persönliches.", sagte Mira leise. "Aber ich kenne dich nicht. Wie könnte ich glauben, dass du auch nur im Entferntesten mehr Ahnung von so etwas hast als ich?"
Ihr kam es eher so vor, als hätte Liz ihr neues Lieblingsspielzeug entdeckt und würde sich jetzt darauf freuen alles Mögliche an ihr auszutesten.
Mi wusste, sie übertrieb und hatte vermutlich auch eine leichte Paranoia, aber sie wäre am liebsten weggelaufen. Nur dass das nicht ging. Sie wünschte sich in ihr Bett, zurück nach Winsaightlay - irgendwohin, nur nicht hier. Seit sie an der Schule war, lief alles schief.

"Das stimmt. Du kennst mich nicht." Helizia setzte sich auf das Krankenbett neben ihr. "Stelll mir Fragen.", forderte Liz Mira auf. "Ich beantworte dir jede und werde nicht lügen." Aufmerksam blickte Liz sie an.

Mira schüttelte den Kopf. Ihr Unbehagen nahm zu. Sie kam mit der Situation einfach nicht klar. "Das ist es nicht, was ich meinte. Selbst tausend Fragen würden nichts ändern." Tausend Fragen konnte man ihr stellen, und selbst dann würde man sie nicht kennen.
Der einzige, der sie je klar gesehen hatte, war Kido. Er hatte sie gekannt. Und sie hatte geglaubt, auch ihn zu kennen. Bis zu dem Punkt, wo sie ihn nicht mehr verstanden hatte. Bis er beschlossen hatte zu gehen.